Irrfahrt der „St. Louis“: Warum ein NSDAP-Mitglied 936 Juden rettete - WELT (2024)

Zweiter Weltkrieg Irrfahrt der „St. Louis“

Kapitän Gustav Schröder war 1933 der Hitler-Partei beigetreten. Dennoch riskierte er sechs Jahre später viel, um jüdische Deutsche zu retten. Mit seinem Schiff „St. Louis“ versuchte er, in einen Hafen in Nordamerika einzulaufen.

| Lesedauer: 4 Minuten

Von Miriam Schaptke

„Die Ungewollten – Die Irrfahrt der St. Louis“

Anzeige

Zur See fahren: Das war der Traum von Gustav Schröder. Mit 16 Jahren brach er die Schule ab, um die Welt entdecken. Er wurde Kapitän, sammelte Seemeilen, Länder, Überfahrten. Er erlebte viel, fuhr mit Luxusdampfern die verschiedensten Routen. Doch eine Überfahrt wurde prägender als alles andere, was er erlebte.

Anzeige

Von seiner Reederei, der Hapag, bekam Schröder im Frühsommer 1939 den Auftrag, mit dem Transatlantikdampfer „St. Louis“ von Hamburg nach Havanna zu fahren. An Bord gingen 937 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland. Alle hatten Urlaubvisa für Kuba und wollten dort in Sicherheit auf ihre Einreisegenehmigung für die USA warten.

Die Atmosphäre an Bord war außergewöhnlich: Kinder spielten ausgelassen, und Erwachsene genossen den Bordservice. Die Diskriminierung und Verfolgung, unter der sie seit Jahren in Deutschland gelitten hatten, ließen sie nun hinter sich – nicht jedoch ihre Angst. Nervosität, Sorge um Zurückgebliebene und Anspannung waren deutlich zu spüren. Die Stimmung der Flucht überschattete jedes aufkeimende Urlaubsgefühl.

Irrfahrt der „St. Louis“: Warum ein NSDAP-Mitglied 936 Juden rettete - WELT (1)

Zu Recht, denn angekommen in Kuba, wurden die Visa nicht anerkannt – die Einreisebestimmungen waren kurz zuvor geändert worden. Bis auf zwei Familien durfte niemand von Bord. Nach fünf Tagen Warten wurde die „St. Louis“ – allen Bitten und Bemühungen von Kapitän Schröder zum Trotz – von der kubanischen Regierung gezwungen, den Hafen zu verlassen. Die Stimmung an Bord kippte. Ein Passagier beging einen Suizidversuch.

Kapitän Schröder musste handeln. Keinesfalls wollte er die Passagiere zurück nach Deutschland bringen. Stets war er in Kontakt mit seiner Reederei. Er beschloss, Kurs auf die USA zu nehmen. Sein Plan: eine illegale Landung in Florida. Doch die US-Küstenwache bekam Wind von seinem Vorhaben und fing die „St. Louis“ ab. Spätestens jetzt richtete sich weltweit Aufmerksamkeit auf den Dampfer.

Das Ziel des Kapitäns, die jüdischen Passagiere vor den Nationalsozialisten zu schützen, wurde von jüdischen Organisationen unterstützt. Doch das reichte nicht. Schröder nahm Kurs auf New York und wandte sich direkt an US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Doch der, wiewohl ein bekennender Gegner Hitlers, sprach sich gegen eine Aufnahme der Flüchtlinge aus. Ebenso Kanada.

Lesen Sie auch

Irrfahrt der „St. Louis“: Warum ein NSDAP-Mitglied 936 Juden rettete - WELT (2)

„St. Louis“ 1939

Roosevelt ließ Jagd auf jüdische Flüchtlinge machen

Anzeige

Die Situation schien aussichtslos. Der Treibstoff drohte auszugehen. Der Druck auf Gustav Schröder stieg. Eine Gruppe Passagiere versuchte, das Schiff zu übernehmen, eine andere drohte mit Massenselbstmord, und ein weiterer Passagier beging Suizid.

Nur dank seiner ruhigen Art gelang es Schröder, Schlimmeres abzuwenden. Er sicherte den Passagieren zu, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Sein neues Vorhaben war jedoch riskant: Er wollte über den Atlantik zurückkehren und vor der britischen Küste eine Havarie simulieren, sodass die Seerettung die Passagiere an Land bringen würde.

Doch so weit kam es nicht. Dank der Vermittlungsarbeit jüdischer Organisationen ließ der belgische Hafen Antwerpen die „St. Louis“ einlaufen und die jüdischen Passagiere an Land gehen. Sie waren vorerst gerettet und wurden auf Dänemark, Frankreich und Großbritannien verteilt.

Irrfahrt der „St. Louis“: Warum ein NSDAP-Mitglied 936 Juden rettete - WELT (3)

Anzeige

Anzeige

Jürgen Glaevecke, der Großneffe des Kapitäns. spricht von einer „Wandlung“, die sein Großonkel während der Überfahrt durchlebte – vor allem in dem Moment, als die Passagiere in Kuba nicht von Bord gehen durften. Schröder erkannte, dass er nicht nur als Seemann verantwortlich für ihr Schicksal war. Würde er zurückfahren nach Deutschland, dann hätte seinen Passagieren wenigstens zum großen Teil Konzentrationslager gedroht.

Der Kapitän wandelte seine Rolle. Statt seinen Auftrag auszuführen, mischte er sich ein, übte Druck aus, trat seinen Vorgesetzten bei der Reederei auf die Füße, bot auch Nazis in seiner Crew die Stirn. Dabei war Gustav Schröder selbst Mitglied der NSDAP, offiziell seit dem 1. Dezember 1933, mit der Mitgliedsnummer 3.286.996. Er hatte seinen Antrag wohl im März oder Anfang April 1933 gestellt.

War er damals aus Überzeugung der Hitler-Partei beigetreten? Das ist nicht klar festzustellen. Neben dem Parteiausweis und einem Foto mit seinen vier Brüdern, auf dem alle das NSDAP-Abzeichen angesteckt haben, gibt es wenig Hinweise. Zwar erwähnte er die Propaganda-Kreuzfahrten von „Kraft durch Freude“ lobend und begrüßt, „dass die führerlosen Zeiten endlich vorüber sind“, doch Glaevecke bezweifelt stark, dass Schröder überzeugter Nationalsozialist war.

Opportunismus habe den Familienvater zum Parteimitglied gemacht, denn er hatte einen stark behinderten Sohn, den er bestmöglich schützen wollte. Vielleicht war er auch Mitläufer. Doch für Glaevecke zählen die Taten und Entscheidungen auf dem Schiff viel mehr als die Parteimitgliedschaft.

Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.

Irrfahrt der „St. Louis“: Warum ein NSDAP-Mitglied 936 Juden rettete - WELT (2024)
Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Tuan Roob DDS

Last Updated:

Views: 6353

Rating: 4.1 / 5 (42 voted)

Reviews: 81% of readers found this page helpful

Author information

Name: Tuan Roob DDS

Birthday: 1999-11-20

Address: Suite 592 642 Pfannerstill Island, South Keila, LA 74970-3076

Phone: +9617721773649

Job: Marketing Producer

Hobby: Skydiving, Flag Football, Knitting, Running, Lego building, Hunting, Juggling

Introduction: My name is Tuan Roob DDS, I am a friendly, good, energetic, faithful, fantastic, gentle, enchanting person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.