Irrfahrt der "St. Louis": Wie die USA 937 jüdische Flüchtlinge abwiesen (2024)

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Der zweijährige Joachim Hirsch, der gerade erst Laufen gelernt hatte, hätte überlebt. Wenn die US-Behörden ihn ins Land gelassen hätten.

Und auch Lore Dublon, das elfjährige Mädchen mit dem schönen, karierten Rock, das am 22. Mai 1939 so schüchtern lächelt auf dem letzten Foto, das es von ihr gibt. Vor ihr steht ihre jüngere Schwester Eva, neben ihr lächelt Vater Willi in die Kamera, kaum einen Kopf größer als sie, gekleidet in einen weißen Anzug. Dahinter sitzen Mutter Erna und Onkel Erich lässig auf der Reling, der Wind weht durch die Locken der Mutter: Urlaubsstimmung an Bord des Vergnügungsdampfers "St. Louis".

Tatsächlich sind die Dublons auf der Flucht. Alles haben sie in ihrer Heimat Erfurt aufgeben müssen, auch ihr Schuhgeschäft. Für das Foto posieren sie neben einem Schwimmring. Die "St. Louis" wird sie retten und nach Kuba bringen. Von dort könnten sie in die USA, weg von den Nazis.

Doch die Familie wird Havanna oder Miami nie betreten, nur vom Schiffsdeck aus erspähen - nah und doch unerreichbar. Denn da sind die Boote und Flugzeuge und Grenzer, die sie abweisen wie Aussätzige. Der Westen will die jüdischen Flüchtlinge nicht. Und so werden die Dublons später in den Osten verschleppt: nach Auschwitz.

Chronist der Tragödie

Fast acht Jahrzehnte liegt die Irrfahrt der "St. Louis" zurück, die 937 Juden, zumeist Deutsche, von Hamburg aus in die Freiheit bringen sollte, doch wochenlang nirgends anlegen durfte. Am Ende starben mindestens 254 der früheren Passagiere in NS-Vernichtungslagern. Zu einer Zeit, in der ein US-Präsident willkürlich die Landesgrenzen für Millionen, darunter Syriens Flüchtlinge, schließen möchte, lohnt ein Blick auf dieses Drama, das zu einem Schandmal der zivilisierten Welt wurde.

In den USA erinnern Aktivisten und Institutionen wie das Holocaust Memorial Museum bereits verstärkt an die "Reise der Verdammten". Und Twitterpräsident Trump wird mit einem Twitterprojekt konfrontiert: Das "St. Louis Manifest" postete am Holocaust-Gedenktag die Namen der Passagiere, die später in die Hände der Nazis fielen. Die kurzen Sätze lesen sich wie eine Anklage:

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Zurück ins Jahr 1939: Erich Dublon hält als einer der wenigen die Fahrt der "St. Louis" in einem Tagebuch fest. Viel ist ihm nicht geblieben, wie alle Passagiere darf er nur 10 Reichsmark ausführen, dazu Waren im Wert von 1000 Reichsmark. Nach außen will sich der NS-Staat großmütig geben, zugleich aber die Juden derart verarmt ausweisen, dass sie in ihren Gastländern als Belastung erscheinen müssen.

Dublon klagt nicht über diesen Zynismus, er notiert, die Prüfung der Papiere sei "bestens organisiert" und "schnell und verbindlich" gewesen. An den Hamburger Landungsbrücken verabschieden Hunderte ihre Liebsten. Eine Kapelle spielt "Muss i denn zum Städtele hinaus". Es ist der 13. Mai.

Irrfahrt der "St. Louis": Wie die USA 937 jüdische Flüchtlinge abwiesen (1)

Fotostrecke

Flüchtlingsschiff: Was aus den Passagieren der "St. Louis" wurde

Foto: United States Holocaust Memorial Museum

Dublon geht an Bord und staunt über das noble Kreuzfahrtschiff der Hapag, 173 Meter lang, drei blitzende Decks mit Spiegelsalon, Pool, Kino, Tanzkapelle und Teppichen, in denen die Füße versinken. Das Überraschendste aber: Hier werden die Juden, einige gerade dem KZ entkommen, so respektvoll begrüßt wie all jene Luxusurlauber, die sonst mit dem Dampfer über den Atlantik schippern; laut Passagierschein sind sie ja auch "Touristen auf einer Vergnügungsreise".

Der erste Tote

Die formvollendete Behandlung hat Kapitän Gustav Schröder persönlich von seiner Mannschaft eingefordert. Dublon notiert:

"Es dauert geraume Zeit, ehe man seine Kabine findet, die Ausdehnung des Schiffs ist erstaunlich. (...) Über das, was es zu Essen gibt, möchte ich mich nicht verbreiten. Es übertrifft an Güte und Auswahl alle Erwartungen."

Auch Kapitän Schröder ist zufrieden. Die anfangs "nervöse Stimmung" habe sich bald entspannt, schreibt er später in seinen Erinnerungen: "Zuversicht und Hoffnung blühten und niemand regte sich auf."

Allmählich kippt die Stimmung. Zwar hat jeder Passagier zumindest eine offizielle "Einreisebewilligung" für Kuba. Das ist aber kein Visum, und bald schwirren Gerüchte durch die Kabinen von einem Regierungswechsel in Kuba und einer neuen, strengeren Einreisepolitik. Die Lage sei "nicht ganz klar", alarmiert die Hapag den Kapitän.

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Fotostrecke

Holocaust: Das "Schiff der Verdammten"

Foto: DPA/ Akviri

In dieser Situation stirbt Moritz Weiler, 63, einst Professor der Uni Köln, an einem Herzinfarkt. Er wird nachts auf See bestattet, um die Einreise auf Kuba nicht zu gefährden. Das löst die nächste Tragödie aus, wie der Kapitän schildert:

"Kaum war die Bestattung beendet, als ein junger Balte an derselben Stelle über Bord sprang, an der der Sarg an der Reling gestanden hatte. Ich drehte das Schiff sofort um, ließ ein Boot aussetzen, das ganze Gebiet mit Scheinwerfern ableuchten - vergebens."

Am 27. Mai 1939 macht die "St. Louis" frühmorgens am Pier von Havanna fest. Die Kapelle spielt "Freut euch des Lebens", die ersten Passagiere gehen von Bord. Verwandte, die schon früher nach Kuba flüchten konnten, erwarten sie. Doch dann zwingen Bewaffnete alle zurück und besetzen die Gangway.

Drama vor Havanna

Warum, das ist bis heute nicht ganz klar. Hunderttausende jüdische Deutsche hatten sich um Visa fürs Ausland bemüht und waren gescheitert, darunter auch der Vater von Anne Frank; wenige bekamen sie. Sind die "Einreisebewillungen" vom Direktor der kubanischen Einwanderungsbehörde illegal gegen Bezahlung ausgestellt worden - und daher ungültig, wie die neue Regierung argumentiert? Oder hat ein Gestapo-Agent in Kuba die Regierung erfolgreich aufgewiegelt?

Kapitän Schröder verhandelt, schmeichelt, klagt, bittet, schreibt Dutzende Telegramme. "Der Erfolg war gleich null", fasst er frustriert zusammen.

Misstrauen schlägt in Wut um, trotz des besonnenen Kapitäns, der mit einem Komitee aus Passagieren die Kontrolle wahren will. Der Jurist Max Loewe, 47, schneidet sich die Pulsadern auf und stürzt sich ins Meer, zwei Matrosen springen hinterher und retten ihn. Danach plant der Kapitän nächtliche "Selbstmordverhütungsrundgänge".

Max Loewe indes hat doppelt Glück: Aus Mitleid wird er an Land gelassen, zusammen mit 28 anderen Juden, die über gültige Visa verfügen. Danach jedoch wird die "St. Louis" aus Havannas Hafen gezwungen. Dublon schreibt:

"Ganz Havanna ist auf den Beinen, Tausende von Autos halten den Hafen besetzt, aus den Fenstern hängen die Menschen. 12 bis 15 Polizeiboote begleiten uns hinaus. (...) Der Tag vergeht, wir hängen in der Luft."

Flugzeuge gegen Flüchtlinge

Auch der Kapitän ist "deprimiert", wie er später schreibt. Eine "so melancholische Abfahrtstimmung" hat er noch nie erlebt. Als eine Frau fragt, wohin er nun fahre, schweigt er: "Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich diese Frage nicht beantworten."

Gustav Schröder nimmt Kurs auf die Küste Floridas, auch wenn die Chancen schlecht stehen. In den USA sind Millionen arbeitslos, Präsident Roosevelt steckt im Wahlkampf und hat sein Land mit einem strengen Quotensystem abgeschottet: So dürfen jährlich nur 25.957 Deutsche einreisen; Ausnahmen für Juden gibt es nicht.

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Also plant Schröder eine illegale Landung, die aber bemerkt wird. Nun kreisen Flugzeuge über der "St. Louis".

Das Drama von Kuba wiederholt sich. Widersprüchliche Funksprüche schwirren um die Welt, fordern zum Warten oder zur Umkehr auf, sprechen Mut zu, bitten um Geduld. Schröder pendelt im Zickzack zwischen Kuba und Florida. Mal zerschlägt sich eine versprochene Landung in der Dominikanischen Republik, dann auf der kubanischen Insel Pinosa, dann in New York. Zwei weiteren Schiffen sollte es später ähnlich gehen.

Häme aus der Ferne

Roosevelt will zwar Flüchtlinge aufnehmen, doch sein Außenminister Cordell Hull, später Friedensnobelpreisträger, und andere Demokraten sind strikt dagegen. Der Präsident knickt ein. Es ist die unwürdige Fortsetzung der Konferenz von Evian, die er 1938 selbst angeregt hatte - und die in einem Desaster endete: Vertreter von 32 Staaten tagten damals, doch bis auf die Dominikanische Republik wollte niemand die Hunderttausende Flüchtlinge, die in den Nachbarländern des NS-Staates gestrandet waren.

Wie damals höhnt auch jetzt die NS-Presse. Derweil bildet Schröder nach zahllosen Nervenzusammenbrüchen ein Seelsorger-Komitee. Als das Öl knapp wird und er nach Europa zurückkehren soll, sagen ihm die Passagiere: "Wir fürchten das KZ mehr als den Tod." Einige sprechen offen von Sabotage.

Irrfahrt der "St. Louis": Wie die USA 937 jüdische Flüchtlinge abwiesen (9)

Dabei ist der Kapitän ihr bester Verbündeter, sucht unermüdlich nach Lösungen. Als er keine findet, will er vor der britischen Küste eine Havarie mit Schiffsbrand vortäuschen, um die Einreise zu erzwingen. Doch die Verzweiflungstat wird überflüssig: Nach vierwöchiger Irrfahrt einigen sich in letzter Minute England, Belgien, die Niederlande und Frankreich, die Flüchtlinge aufzunehmen. Am 17. Juni 1939 legt die "St. Louis" in Antwerpen an.

Zum ersten Mal seit Wochen spielt wieder die Kapelle. Auch Erich Dublon und seine Familie können von Bord. Sie ahnen nicht, dass die Wahl des Gastlandes über Leben und Tod entscheiden wird.

Gerettet, dann ermordet

Die Dublons ziehen zu Verwandten nach Brüssel. Ein Jahr später überrennt die Wehrmacht Belgien. Erich Dublon wird 1942 in Auschwitz ermordet, Willi, Erna und ihre Töchter 1944.

Im selben Jahr endet auch die Geschichte der "St. Louis", zerbombt im Hamburger Hafen. Ein Foto zeigt Kapitän Schröder verloren in den Trümmern des einstigen Traumschiffs, das für viele zur Falle geworden war.

Den Kapitän lässt das nie mehr los. Nach dem Krieg beendet er seine Memoiren mit einem Satz, der nun wieder sehr aktuell klingt:

"Niemals möge die Mahnung vergessen werden, die das tragische Schicksal der schwergeprüften Passagiere für die gesamte Menschheit bedeutet: damit sich Grausamkeit und Unmenschlichkeit nie wieder breitmachen können."

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