„St. Louis“ 1939: Roosevelt ließ Jagd auf jüdische Flüchtlinge machen - WELT (2024)

Zweiter Weltkrieg „St. Louis“ 1939

Im Sommer 1939 versuchten 900 Juden, sich mit dem Dampfer „St. Louis“ nach Kuba und in die USA zu retten. Trotz gültiger Papiere wurde die Einreise verweigert. Eine schreckliche Irrfahrt begann.

| Lesedauer: 5 Minuten

Von Florian Stark

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Eigentlich war Kapitän Gustav Schröder auf unterhaltsame Kreuzfahrten spezialisiert, ins Mittelmeer oder nach Skandinavien. 1939 beorderte ihn die Hamburger Hapag-Reederei als Urlaubsvertretung auf die „St. Louis“, einen modernen Luxusdampfer, der auf der Nordamerika-Linie im Einsatz war. Doch diesmal ging es nicht um eine Spaßreise der NS-Organisation „Kraft durch Freude“, sondern um die Rettung von Leben. Die 937 Passagiere, fast ausschließlich deutsche Juden, wollten um alles in der Welt das Deutschland Adolf Hitlers verlassen und Zuflucht in der Neuen Welt suchen. Es wurde eine Irrfahrt des Grauens.

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Im Mai 1939 stach die „St. Louis“ in See. Ein halbes Jahr lag die Reichspogromnacht zurück, in der in Deutschland Synagogen brannten und jüdische Geschäfte zerschlagen worden waren. 937 Juden mit Realitätssinn, die zudem die Mittel hatten, ein kubanisches Visum plus Passage zu bezahlen, erwarben Tickets, um im vermeintlich sicheren Havanna auf die Weiterreise in die USA warten zu können.

Zu ihnen gehörte die Familie von Gisela Feldman, die damals noch Knepel hieß. Die Feldmans hatten ihr Lebensmittelgeschäft aufgeben müssen. „Kauft nicht bei Juden“, forderten die Nazis. Eine deutsche Familie habe ihre Wohnung gewollt, erinnert sich Feldman. Die Berlinerin Eva Wiener, damals noch Safier, fuhr mit ihren Eltern ebenfalls auf der „St. Louis“ mit. Der Vater, ein Pole, war von den Nazis nach Warschau gebracht worden. Er durfte nur zurückkommen, wenn ihm seine Frau ein Visum für ein anderes Land organisierte. „Ich war das jüngste Mädchen auf dem Schiff“, erinnerte sie sich Jährige in Jerusalem. In einem weißen Kleidchen trug ihre Mutter Zipora sie die Laufbrücke zum Schiff hinauf.

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Das gute Wetter und der gastliche Service reichten allerdings nicht aus, um die Stimmung der Flüchtlinge zu heben. Als ein alter Lehrer den Strapazen erlag, wurde dies als böses Omen genommen. Um den Behörden auf Kuba keine Handhabe zu bieten, wurde der Leichnam in aller Stille auf dem Meer bestattet. Ein junger Balte beging Selbstmord. Telegramme warnten vor Problemen bei der Landung in Havanna.

Sie sollten recht behalten. Als die „St. Louis“ an der Pier von Havanna festgemacht hatte, erschienen Männer in Uniform, die die Landung verboten. An Bord spielten sich herzzerreißende Szenen ab, wurden viele Passagiere doch von Familienangehörigen an Land erwartet. Warum die Visa nicht galten, wurde weder Kapitän Schröder noch den Betroffenen erklärt. Ein kubanischer Regierungsmitarbeiter habe die Papiere privat verkauft, fasst Margalit Bejarano von der Hebräischen Universität in Jerusalem das Ergebnis von Historikerrecherchen zusammen. Hinzu kam die große Politik. Es gab eine sehr große antisemitische Kampagne in Kuba extra gegen die Flüchtlinge, sagt Bejarano. Die Nationalsozialisten wollten der Welt zeigen: Seht her, keiner will die Juden.

„Was ich daraufhin alles unternahm an Schreibereien, Bittgängen und telegraphischen Hilferufen, weiß ich nicht mehr“, schrieb Schröder in seinen Memoiren. „Der Erfolg war jedenfalls gleich null.“ Ein Jurist an Bord schnitt sich die Pulsadern auf. Nach fünf Tagen setzten die kubanischen Behörden dem Kapitän ein Ultimatum. „Ich hätte den Hafen sofort zu verlassen, widrigenfalls man das Schiff mit Gewalt hinausbringen würde.“ Schröder nahm Kurs auf die USA.

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Chiffrierte Meldungen seiner Reederei bestärkten den Kapitän in dem Plan, seine Passagiere in Sicherheit zu bringen. Schröder versuchte es mit einer illegalen Landung in Florida. Rettungsboote sollten seine Passagiere an Land bringen. Aber Schiffe und Flugzeuge der US-Küstenwache durchschauten das Unternehmen und machten Jagd auf die „St. Louis“.

Schröder fuhr weiter Richtung New York und ließ durch ein Telegramm an die amerikanische Presse die Stimmung an Bord publik machen. „Der Widerhall war eine Flut von Funksprüchen aus Havanna, New York, Hamburg und Gott weiß woher, die teils zum Warten, teils zum Umkehren aufforderten. Andere sprachen Mut zu und deuteten an, dass unentwegt an einer Lösung gearbeitet werde. Wir an Bord konnten lediglich ergebungsvoll unsere Köpfe schütteln und uns fragen, was wohl daran so viel zu arbeiten sei. Das ganze Problem konnte doch mit einem Federstrich gelöst werden.“

In ihrer Not wandten sich Schröder und seine Passagiere schließlich in einem Telegramm direkt an US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Jüdische Organisationen sprangen ihnen bei. Einflussreiche Politiker der Demokratischen Partei aber verwiesen auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen und drohten mit dem Rückzug ihrer Unterstützung. Am 4. Juni lehnte Roosevelt die Bitte der „St. Louis“ mit Hinweis auf den Immigration Act von 1924 ab, der streng limitierte Quoten für Einwanderer festlegte. An Bord mussten die Vorräte rationiert werden.

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Auf der Rückfahrt spielten sich auf der „St. Louis“ dramatische Szenen ab. „Herr Kapitän, Sie wissen doch, wir können gar nicht zurückkehren. Alles haben wir dort verloren und das KZ wird unser Ende sein, das KZ oder … die Nordsee“, begründete ein Flüchtling seine Bereitschaft zum Suizid. „Wenn Sie mit dem Schiff heil bis Cuxhaven hineinkommen, dürften Sie wohl etwa hundert Kabinen leer vorfinden, denn wir fürchten das KZ mehr als den Tod.“ Ein „Sabotage-Komitee“ an Bord plante einen Massenselbstmord. Mehrmals drohte offene Meuterei.

Schließlich verfiel Schröder auf einen verzweifelten Plan. Vor der englischen Küste wollte er eine Havarie simulieren und das Schiff im flachen Wasser auf Grund setzen. Doch bevor es so weit war, erreichte die „St. Louis“ das erlösende Telegramm. Durch Vermittlung einer jüdischen Hilfsorganisation erklärten sich Belgien, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien bereit, die Juden aufzunehmen. In Antwerpen durften sie von Bord gehen.

Ein knappes Jahr später überrannte die Wehrmacht den Westen des Kontinents. 254 Passagiere der „St. Louis“ fielen bald darauf dem Holocaust zum Opfer. Schröder, der das Schiff durch die britischen Sperren nach Deutschland zurückgebracht hatte, überlebte den Krieg und starb 1959 in Hamburg. Postum wurde er vom Staat Israel unter die „Gerechten der Völker“ aufgenommen. 2012 entschuldigte sich die amerikanische Regierung bei den Überlebenden. Bereits 1976 hatte Hollywood die Fahrt der „St. Louis“ zum Thema eines Dramas gemacht. Unter den zahlreichen Stars war auch Max von Sydow. Er gab den Kapitän.

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